Einleitende Gedanken von Pfarrer Jakob Vetsch in der Zeiten Auflage „Das Gotteshaus zu Serneus“
Die Siedlung Serneus schaut nach Norden. Sie erfuhr nach dem Brand von 1741 in verhältnismässig jüngerer Vergangenheit zum guten Teil einen Wiederaufbau und liegt bis heute abseits von jedem Durchgangsverkehr. In den letzten Jahrzehnten wurden erfreulicherweise etliche Haussprüche durch fachgerecht getätigte Auffrischung wieder schön zur Geltung gebracht. Diesen Umständen verdanken wir die Bewahrung vieler Sprüche an Häusern, in Stuben und an Gegenständen.
Wie das ganze Dorfbild, ist auch der hiesige Inschriftenbestand ziemlich einheitlich ausgeführt, nämlich ohne weisses Band flach gekerbt. "Ich sage sicher nicht zuviel, wenn ich diese Haussprüche als die schönste Zier des Prättigauer Hauses bezeichne", äusserte sich seinerzeit Dekan Truog. In der Tat bringen Haussprüche dem geduldigen Betrachter das Empfinden und Denken, den Glauben und die Hoffnung einstiger Hausbewohner eindrücklich liebevoll nahe. Sie repräsentieren einen wichtigen Teil kulturellen und religiösen Ausdrucks der Volkseinstellung im Tal aus einer Zeit, in welcher beträchtlich weniger Informationsquellen flossen als heutzutage.
So spricht der grosse Brand noch aus recht düsteren Inschriften. Vom Wiederaufbau der 29 Häuser zeugen viele Sprüche. Nur drei davon wünschen jedoch einfach Gottes Bewahrung vor einem neuen Brand. Häufiger findet sich die Verwerfung des flüchtigen, jammervollen und sündigen Lebens und das Ersehnen nach dem Frieden der himmlischen Heimat. Wir begegnen Schilderungen des Opfertodes Christi, des jüngsten Gerichtes, des Himmels und der Hölle, die dem Menschen vor Augen geführt werden. Offenbar war jene Katastrophe in Serneus stärker als in anderen Dörfern als göttliches Mahnmal, ja als Gericht aufgefasst worden. Der Prättigauer Hausspruchsammler Robert Rüegg hat die Frage aufgeworfen, ob diese Sicht der Dinge vielleicht durch das Vorbeiziehen eines Kometen im Jahre 1742 gefördert worden war? Jedenfalls deuten mehrere Sprüche jene fatale Heimsuchung in inniger Weise als Aufruf zur Busse, also zur Umkehr und zur Neuorientierung des Lebens.
Das bunte Spruchbild ist vermischt durch die verschiedensten Gattungen wie Mitteilungen, Bekenntnisse, Mahnungen, Wünsche und Glückwünsche, sowie Lebensweisheiten. Zur Schlichtheit des Dorfes passt der unseres Wissens nur hierzuorten nachgewiesene Vers: "Mir genügt, wie Gott es fügt".
Zahlreiche Sprüche zeigen in rührender Weise von der irdischen Wohnung weg zur himmlischen Wohnung, von der diesseitigen Bürgerschaft zur jenseitigen Bürgerschaft, von der vergänglichen Stätte zur bleibenden Statt, vom zeitlichen Haus zum ewigen Vaterhaus im Himmel. Das Dasein erscheint als kurzer Augenblick, der Einzelne als fremder Gast auf Erden, die menschliche Gemeinschaft als wanderndes Gottesvolk. Dieses Empfinden kommt aufs Tiefste auch im Abendmahl zum Ausdruck, das im Serneuser Gotteshaus auf calvinistische Art wandelnd gefeiert wird: Das Volk des Aufbruchs, welches der Wegzehrung von Brot und Wein Christi zur Erreichung seines hohen, verheissenen Zieles bedarf. Wer wollte angesichts solch schöner Aussichten nicht immer wieder aufs Neue die Aufrufe dieser Zusprüche beherzigen?
Die folgenden Sprüche und Verse sind der Sammlung "Haussprüche und Volkskultur" von Robert Rüegg (hrsg. von der Schweizerischen Gesellschaft für Volkskunde, Basel 1970) entnommen und mit Quellenverweisen ergänzt worden.